Freitag, 14. Oktober 2011

1968 und danach: Umbruch und neuer Aufbruch

Nach dem Abschied von Pastor Reim kam es zu einigen grundlegenden Wandlungen in der Oxforder Gemeinde. Während Birmingham ab 1. Oktober 1968 Sitz eines eigenen Pfarramtes (Pastor Jörg Müller) wurde, wurde Oxford nun dem Pfarramt London II zugeteilt. Dies stand freilich mit Artikel II der Gemeindeverfassung nicht in Übereinstimmung, der besagte, 'Der Sitz des Pfarramtes ist Oxford'. Stattdessen sollte Oxford in Zukunft als 'halbe Pfarrstelle' von einem ordinierten Doktoranden versorgt werden, der nebenher natürlich auch seinem wissenschaftlichen Auftrag gerecht werden musste. Dass ein solcher Doktorand jeweils zur Verfügung stand, war dabei keinesfalls sicher. Die Gemeinde Oxford war nun weitgehend vom eigenen Organisationsvermögen und von glücklichen Zufällen abhängig.
Diese stellten sich auch ein, zunächst in der Person von Geiko und Helga Müller-Fahrenholz. Geiko Müller-Fahrenholz arbeitete in den nächsten Jahren an seiner Dissertation, das Ehepaar kümmerte sich aber gleichzeitig auch intensiv um die Gemeinde.
Auf ihre Initiative geht der Beginn eines 'Internationalen Kolloquiums' zurück, das in Zusammenarbeit mit St. Anne's College, Balliol's College und natürlich auch mit dem Mansfield College organisiert wurde.
Dieses Internationale Kolloquium sollte vor allem Studenten und Au-pair Mädchen ansprechen. Es war als Versuch vorgesehen, 'die Probleme unserer Zeit mit den Aussagen des christlichen Glaubens zu konfrontrieren'. Es sollte international sein, 'denn erst in der Begegnung mit Vertretern anderer Völker und Rassen ergibt sich ein abgewogenes Urteil". In der Regel sollte dieses Kolloquium in englischer Sprache abgehalten werden, da die wenigsten Teilnehmer Interesse hatten, in Oxford Deutsch zu sprechen. Es sollte Christen ebenso wie Atheisten zugänglich sein.
Die ersten Veranstaltungen, die ab Winter 68/69 im Rahmen des "InternationalColloquium" stattfanden, waren z.B. eine Diskussion über die Theologie der Revolution in Latein-Amerika, ein Vortrag von Dr. und Mrs. Gerhard Förde über 'Freedom and Revolt', in dem die Teilnehmer mit der Ablehnung des christlichen Glaubens durch Albert Camus konfrontiert wurden, sowie ein Gespräch über 'Apartheid and Racism in Africa'.
Im August 1970 schloss Pastor Müller-Fahrenholz die Arbeit an seiner Dissertation ab. In ihrem 'Farewell'-Gruss blickten Helga und Geiko Müller-Fahrenholz auf eine glückliche Zeit zurück: 'Wir kehren als Beschenkte nach Deutschland zurück' versicherten sie der Gemeinde. 
Am 13. September 1970 kam als Nachfolger Pastor Dieter Clausert. Der 1940 in Kiel geborene Wahlberliner schrieb in Oxford seine Doktorarbeit über den Zusammenhang von christlichem Bekenntnis und politischer Verantwortung bei Karl Barth. Auch er nahm die Gemeindearbeit mit grossem Elan auf.
Von Seiten einiger Gemeindeglieder wurde jedoch empfunden, dass es halt schön wäre,auch eine Pfarrersfrau zu haben. Zu Weihnachten 1970 stellte Pastor Clausert dann seine Braut Inge - gewissermassen als Weihnachtsgeschenk für die Gemeinde - vor.
Das Internationale Kolloquium fand nun 14tägig statt. Prof. Leo Liepmann* gab eine Einführung in 'The crisis in the Middle East - background and present position' und referierte später über 'Charity and Politics'. Mrs. F. Nicholls sprach über 'Problems of a Developing Country. The Example of Ghana'. Daneben fanden auch Gemeindeabende statt. Der Bibelkreis, der seit Jahren mit grosser Treue und Zuver­lässigkeit zusammenkam, hatte begonnen, sich in den Häusern der Teilnehmer zu treffen. Dies war der einzige Kreis in der Kirche, der sich zusätzlich zum Gottesdienst regelmässig traf. Ausserdem wurde in der Zeit Dieter und Inge Clauserts ein Fahrdienst eingerichtet, durch den ältere Gemeindeglieder zu den Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen abgeholt wurden.
Nachdem Dieter Clausert am 22. Juli 1973 seinen Abschiedsgottesdienst gehalten hatte, gelang es der Gemeinde noch einmal, die mit einem Forschungsauftrag ver­bundene halbe Pfarrstelle zu besetzen. Ab 1. Januar 1974 kam Frau Roswith Gerloff, die schon in Berlin und Hamburg gearbeitet hatte, aber auch Grossbritannien von verschiedenen Aufenthalten her kannte.
Gleich in die Anfangszeit von Pastorin Gerloff fällt der Tod von Frau Elisabeth Liepmann, deren Arbeit in der Gemeinde und für die Gemeinde kaum überschätzt werden kann. Es war eine grosse Beruhigung für Frau Liepmann, dass sie in den vierzehnTagen vor ihrem Tode Frau Gerloff noch alle Einzelheiten und Details über das Gemeindeleben vermitteln konnte. Frau Gerloff hielt die Traueransprache, aus der Bundesrepublik schrieb Pastor Müller-Fahrenholz: 'Elisabeth Liepmann war dreissig Jahre lang der eigentliche Pfarrer und Seelsorger der Gemeinde Oxford'.
Roswith Gerloff konnte in der Gemeindearbeit auf die Erfahrungen ihrer Vorgänger Dieter Clausert und Geiko Müller-Fahrenholz zurückgreifen. Auf Anraten beider hatte sie die obere Wohnung in 15 Lathbury Road bezogen, die sie nun bewusst zu einem Gemeindezentrum ausbaute. Hier fanden Gemeindeabende und Bibelstunden statt, ein Thema war z.B. 'Menschenrechte und Menschenwürde'. Im Dezember 1974 soli­darisierte sich die Gemeinde mit dem Berliner Bischof Scharf, der von Teilen der Boulevard-Presse als 'Baader-Meinhof-Bischof' verunglimpft worden war.
Das Internationale Kolloguium fand ab 1974 alle 14 Tage statt. Hierzu kamen neben Studenten auch Au-pair Mädchen, um deren Betreuung sich Roswith Gerloff in Zusammenarbeit mit dem deutschen Sozialausschuss London kümmerte. Wichtig waren auch zahlreiche Ausflüge mit älteren Gemeindegliedern, die Seelsorge in den Krankenhäusern und Besuche von Gefangenen, mit denen durch die deutsche Botschaft Kontakt herge­stellt worden war.
Eine enge Verbindung bestand schon seit längerem zu den deutschen jüdischen Einwanderern in Oxford. Ihnen wurde durch den Pastor der Gemeinde die jährliche Wiedergutmachungsbescheinigung ausgestellt, aber der Zusammenhalt ging weit darüberhinaus. Erna Plachte*, Herr und Frau Dr. Weile und andere kamen praktisch zu allen Gemeindeveranstaltungen - mit Ausnahme der Gottesdienste -, der deutsche Pfarrer und die deutsche Gemeinde waren ihnen sehr wichtig.
Sehr positiv war in dieser Zeit die Zusammenarbeit mit Anglikanern und Reformierten. Die Gemeinde war im Oxford Council of Churches vertreten und wurde in alle oekumenischen Veranstaltungen einbezogen. Gut war auch die Zusammenarbeit mit St. Mary's, vor allem unter dem Pfarrer Peter Cornwell. Gerade damals war in der Anglikanischen Kirche eine intensive Debatte über Frauen als Priester. Roswith Gerloff wusste, dass man in St. Mary's dafür aufgeschlossen war, wurde aber doch überrascht, als bei ihrem Abschiedsgottesdienst 1978 der Pfarrer der Oxforder Universitätskirche der erste war, der das Abendmahl aus ihrer Hand entgegennahm.
Von 1976 an fanden zweisprachige Gottesdienste statt. Bei deren Gestaltung half Dr. Merlyn Satrom mit, der gemeinsam mit seiner Frau Arline bald für das Leben in der Deutschen Evangelischen Gemeinde Oxford sehr wichtig wurde. Dr. Satrom war Tutor am Mansfield College, seine Aufgaben lagen daneben auch in der Beratung des Lutheran Council und in der pastoralen Betreuung von Studenten. Er hatte zunächst einen Drei-Jahres-Auftrag, der jedoch später um weitere drei Jahre verlän­gert wurde. So blieben die Satroms bis 1982 in Oxford.
Wichtig ist es, auch die Zusammenarbeit mit Walter Hillsman, dem Organisten am St. Maragaret's College, zu erwähnen. Er spielte einmal im Jahr mit Unterstützung der deutschen Gemeinde und der deutschen Botschaft einen Gottesdienst nach alter Leipziger Liturgie.

*Leo Liepmann war 1942 Mitbegründer von Oxfam (mündl. Mitteilung von Dr. Günter Reim. Von der Gründungssitzung zeugt eine Plakette in der Old Library von St.Mary's; W.B.)

*Erna Plachte war Malerin und hat bei den Verhandlungen um den Vertrag von Locarno Konferenzteilnehmer gezeichnet (mündl. Mitteilung von Dr. Günter Reim; W.B.)

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