Freitag, 14. Oktober 2011

Begegnungen mit der Anglikanischen Kirche

Die Begegnungen mit der Anglikanischen Kirche waren auch in der folgenden Zeit wichtig für die Deutsche Evangelische Gemeinde Oxford. Im Mai 1940 predigte Bischof Bell aus Chichester zu der Flüchtlingsgemeinde: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die künftige suchen wir."
Gleich darauf predigte der Bischof von Chichester wieder. Als Text hatte er das Bussgebet des Zöllners gewählt: "Gott sei mir Sünder gnädig."
In den Kriegsjahren wuchs die Gemeinde langsam, als die aus London Evakuierten zu ihr kamen. Manchmal predigte nun der damalige Pfarrer von St. Mary, der Rev. Milford.
Es war ein grosser Tag für die Gemeinde, als im Februar 1943 der Erzbischof von Canterbury, Dr. Temple, zu ihr kam und predigte. Er sprach über das Wort des Apostels Paulus, das die Gemeinde als Wirklichkeit immer wieder erfahren hat: "Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christus Jesus." Galater 3,28
Ein paar Monate nach dem Erzbischof besuchte der Bischof von Oxford, der hochkirchliche und sehr gelehrte Dr. Kirk, die Gemeinde. Er äusserte Pastor Kramm gegenüber, dass man der Gemeinde als lutherischen Gemeinde Gastfreundschaft gewähren müsse. Wäre sie reformiert, wäre es das Gegebene, sich den Presbyterianern anzuschliessen. Diese Ansicht wurde nicht unbedingt von allen englischen Kirchen­führern geteilt. Seine Absicht, in einem lutherischen Gottesdienst zu predigen, konnte Bischof Kirk wegen seiner schlechten Gesundheit nur einmal durchführen.
Nachdem Hans-Werner Kramm 1941 seinen Ph.D. gemacht hatte, hörte sein Stipendium vom Mansfield College auf. Zum Glück bot ihm damals die Mariengemeinde in London eine halbe Pfarrstelle an, die sie aus früher gestifteten Fonds bezahlen konnte. Ihre Kirche war zerbombt, ebenso wie die deutsche evangelische Kirche in Sydenham und die reformierte St.Pauls-Kirche im Osten von London. So bestand Anlass zu der Befürchtung, dass sich die Gemeinde verlaufen würde. Besonders die älteren Gemeinde­glieder waren verängstigt. Sie fürchteten, dass als Folge der Bombenangriffe ähnliche Ausschreitungen gegen die Deutschen vorkommen könnten, wie sie sie 1916 nach der Torpedierung der Lusitania erlebt hatten. Zum Glück verwirklichten sich diese Befürchtungen nicht. Dies ist wohl auch den englischen Kirchen zu verdanken, die sich im 2. Weltkrieg entschlossen gegen jeden Chauvinismus in der Bevölkerung wandten.
Die zweite Hälfte von Kramms Gehalt kam zum Teil vom Mansfield College, das - erfindungsreich wie immer - vorschlug, dass Kramm Vorlesungen über Luthers Theologie im Regents Park College halten sollte. Man erhoffte sich dadurch auch eine Aus­weitung der Luther-Forschung in England, die immer zu kurz gekommen war. Die Errichtung eines lutherischen Lektorats am Mansfield College geht auf Kramm zurück.
Den restlichen Teil von Kramms Gehalt mussten die Gemeinden selbst aufbringen. Dabei wurde weitgehend das Tütensystem benutzt. Es ist freilich immer gelungen, den Betrag aufzubringen, auch dann noch, als Pastor Kramm wegen seiner zunehmenden Arbeit für einige Wochenstunden eine Sekretärin brauchte und sich schliesslich auch ein eigenes Zimmer mieten musste.


Eine neue Heimat für die Flüchtlinge
Da Kramm jede zweite Woche in der Londoner Mariengemeinde war, fanden die lutherischen Gottesdienste in der Universitätskirche mit den alten gotischen Türmen und dem Barockportal nun alle vierzehn Tage statt. Anschliessend ging die Gemeinde in die Old Library (einem Versammlungsraum im 1. Stock) zu einem Vortrag und einer Diskussion. Regelmässig wurden Bibelstunden abgehalten, die auch nicht ausfielen, wenn der Pfarrer einmal nicht da war. Bei Gemeindenachmittagen im Hause von Dr. Meininger sprachen entweder er selbst, Prof. Grünhut, Prof. Schulz oder andere über Themen aus ihrem Forschungsgebiet. Vor allem aber übernahmen drei jüngere Frauen abwechselnd den Kindergottesdienst in der Old Library.
Auch ein Jugendkreis in Pastor Kramms Wohnung fand reges Interesse. Man kam nicht nur zusammen, um weltanschauliche Fragen zu besprechen, sondern auch, um Werke der Literatur vom "Faust" an zu lesen. Es bestand ein reger Nachholbedarf, weil für viele Teilnehmer der Unterricht in deutschen Schulen jäh abgebrochen worden war.
So wurde die Deutsche Evangelische Gemeinde in Oxford allmählich zu einem wichtigen Faktor im Leben der deutschen Flüchtlinge. Fräulein I. Steinitz erinnert sich an ihre erste Begegnung mit dieser Gemeinde:
Nach meiner Rückkehr nach Oxford kam ich mir oft einsam und verloren vor, ich kannte keinen Menschen. Es gab ein Refugee-Komitee, das uns zunächst, mal wieder mit Kleidern ausstattete. Sonntagnachmittage waren immer frei für die Haus­angestellten. Mir wurde empfohlen, in die Church of England zu gehen, aber dort wollte ich nicht hin. Ich hatte einmal einen Gottesdienst in der Anglikanischen Kirche besucht und fühlte mich dort gar nicht zu Hause. Dann machte man mich auf ein Quäker-Meeting in der High Street mit anschliessendem Tee für alle auf­merksam. Dieses Quäker-Meeting sagte mir aber nicht zu, es war zu ruhig.
Das war im November 1940, es war die Zeit des 'blackout' in Oxford, alles war wegen der Gefahr von Angriffen verdunkelt. Ich ging auf die Strasse und wollte nach Hause gehen. Als ich zur High Street kam, sah ich eine grosse Kirche, die erleuchtet war. Das zog mich sehr an, ich ging hinein und zu meiner grossen Überraschung hörte ich deutsches Gerede: "Um Gottes Willen, was machen wir bloss?" - Offensichtlich herrschte grosse Aufregung. Ich fragte: "Was ist denn los?" Und mir wurde gesagt: "Wir hatten hier eben einen deutschen Gottesdienst, und unsere Orgel ist kaputt." Sofort kam Frau Liepmann und fragte: "Wer sind Sie?" Und ich antwortete:" Ich war noch nie hier, ich bin gerade erst angekommen." Sie erwiderte:" Na, dann müssen Sie mich ja besuchen kommen und hier in die Kirche eintreten." Ich hatte etwas Bedenken und sagte: "Ich bin eigentlich nicht christlich, eigentlich gehöre ich zu gar keiner Religion." "Das hat gar nichts damit zu tun", meinte darauf Frau Liepmann. Sie schrieb meine Adresse auf, und das war der Beginn von allem. Das nächste Weihnachtsfest war dann bereits in dieser Gemeinde, es war sehr schön, Pastor Kramm predigte.

Eine bleibende Erinnerung war der erste Gottesdienst in deutscher Sprache, den sie in Oxford erlebte, auch für Frau Elisabeth Reynolds. Die aus Karlsruhe stammende Tochter eines jüdischen Psychiaters war bereits getauft, da ihr Vater wollte, dass seine Kinder im christlichen Glauben aufwachsen: 'Ein Volk, eine Religion' war seine Auffassung.
E. Reynolds kam zuerst als mother's help nach Sommerset. Als Hitler einmarschierte, kam sie 1940 nach Oxford - Flüchtlinge durften nicht mehr in Grenzprovinzen sein. Im gleichen Jahr besuchte sie zum ersten Mal einen Gottesdienst in deutscher Sprache in der Universitätskirche St. Mary's:
Die ganze Kirche - nicht nur der Chor - war voll, neben den Oxforder Refugees waren auch die aus London Evakuierten da. Pastor Hildebrandt (später Professor der Theologie in Edinburgh) hielt eine wunderbare Predigt. Der erste Abend ist ist mir auch sonst in Erinnerung geblieben: Es war alles ganz verdunkelt - es war die Zeit des 'blackout' - aber es war eine wunderbare klare Mondschein­nacht, der Vollmond beschien die Mauern des benachbarten All Souls College - es war wunderbar.
In das Gemeindeleben einbezogen wurde Elisabeth Reynolds dann auch durch Pastor Kramm. Dieser beklagte sich, dass er so viele Briefe zu schreiben hatte, und Frau Reynolds bot sich an, ihm an ihren freien Nachmittagen zu helfen:
Das hat übrigens meinen Eltern sehr geholfen, die in ein KZ nach Frankreich deportiert waren. So sind sie auf eine protestantische Gemeinde in Frankreich gestossen.

Im März 1943 kam Dr. Johann Schneider als Einundzwanzigjähriger nach Oxford, um am Statistischen Institut der Universität zu arbeiten. Er suchte gleich einen Gottes­dienst in der deutschen evangelischen Gemeinde auf:
Ein Jahr in Oxford - ein unverhofftes Glück mitten im Kriege. Und endlich wieder in einer Gemeinde unserer eigenen Kirche. Dort lernte ich auch Pastor Kramm kennen, der die Gemeinde im Februar 1939 in Mansfield College gegründet hatte. Mit H.W. Kramm hat mich dann, vor allem später in London, eine jahre­lange Freundschaft verbunden. Ihm verdanke ich sehr, sehr viel. Durch ihn und seine Gemeinden Oxford und St. Marien-London, viel mehr als daheim in Böhmen, habe ich erst richtig lutherische Kirche, lutherische Gottesdienste, lutherische Theologie und den eigentlichen Reichtum unserer schönen Lieder kennengelernt. Und noch vieles andere durch den Jugendkreis in seiner Wohnung, der hat auch meinen deutschen Wortschatz wieder aufgefrischt, der durch Jahre in Süd­westengland etwas eingerostet war!
In mancher Hinsicht war das Jahr in Oxford nicht leicht für mich, aber die Gemeinde hat mir und vielen anderen Halt und Heimal geboten und so manche Freundschaft begründet.


Frau Dr. Ursula Behr, die im Jahr 1941 nach Oxford kam, berichtete über die Früh­zeit der Gemeinde Folgendes:
In Oxford erfuhren wir Flüchtlinge nicht nur von kirchlicher Seite viel freund­liches Entgegenkommen. Die Schwestern Ruth und Rosemary Spooner veranstalteten in ihrem Haus Musikabende, zu denen sie besonders die deutschen Flüchtlinge ein­luden, die dort zwanglos englische Gäste kennenlernen konnten. Die christliche Studentenbewegung (S.C.M.) lud uns zu Clubabenden ein, wo man ausser einem anregenden Programm Leute aus aller Herren Länder treffen konnte und sich nicht als Fremder unter lauter Einheimischen zu fühlen brauchte.
Die Haltung der englischen Bevölkerung zu den 'enemy aliens' war viel toleranter als im 1. Weltkrieg, wo die in England ansässigen Deutschen vielfach angefeindet wurden. Man hatte jetzt gelernt, zwischen Deutschen und Nazis zu unterscheiden.. Als ich mir während des Krieges per Zeitungsannonce eine neue Stellung im Haus­halt suchte und angab, dass ich Deutsche sei, bekam ich nicht weniger als 17 Angebote. Haushaltspersonal war ausserordentlich knapp, aber es war doch bemer­kenswert, dass so viele Familien bereit waren, eine Deutsche in ihr Haus zu nehmen.
Der einzige, der etwas streng mit uns war (von Amts wegen), war der junge Wachtmeister von der Oxforder Polizei. Wir hatten damals eine Sperrstunde von zehn Uhr abends ab, aber Pastor Kramms Jugendkreis in seiner Wohnung dehnte sich meist länger als bis zehn Uhr aus. Mein Weg führte an der Polizeistation vorbei, und ich legte ihn zu Fuss, möglichst schnell, in unauffälliger dunkler Kleidung zurück, wurde auch nie gefasst.
Finanziell waren unsere Gemeinde und ihr Pastor recht knapp dran, wir alle lebten von Zuwendungen der Flüchtlingskomitees oder hatten eine sehr bescheidene Stel­lung. Umso nötiger war es, dass die Gemeindeglieder zusammenhielten und fürein­ander sorgten. Wenn der Pastor ein neues Hemd brauchte, machte ihm ein des Schneidern kundiges Gemeindeglied eins aus zwei alten. Die Gemeinde war für viele der Ersatz für eine Familie. Man hatte noch nicht so festen Fuss in Eng­land gefasst, dass man an Heiraten oder die Gründung einer Familie denken konnte. Trotz des Flüchtlingschicksals, trotz des Krieges und der Sorge um das Ergehen der Freunde und Verwandten in Deutschland, gehören für mich die Jahre in Oxford zu den glücklichsten Zeiten meines Lebens. Möge Gott der Gemeinde in Oxford und ihrem Pastor weiterhin seinen Segen und viel fruchtbare Arbeit schenken.

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