Freitag, 14. Oktober 2011

Die Integrierunq der Kriegsgefangenen ins Gemeindeleben

Die Fähigkeit der Gemeinde, vieles selbst zu organisieren, wurde auf eine weitere Probe gestellt, als 1944 nach der Landung der Alliierten in Frankreich viele deutsche Kriegsgefangene gemacht und nach England gebracht wurden (in den Jahren vorher waren deutsche P.o.W.s meist nach Kanada und Australien transportiert worden aus Sicherheits- und Ernährungsgründen; es handelte sich damals sowieso nur um geringe Zahlen). Jetzt mussten in England überall neue Lager eingerichtet werden. Pastor Birger Forell wurde von der Y.M.C.A. beauftragt, sich um die kulturellen Belange der P.O.W.s zu kümmern. Er setzte sich mit seiner ganzen Persönlichkeit dafür ein.
Wenn er seine Bekannten besuchte, stand er vor ihren Bücherschränken und sagte: "Wie könnt Ihr es eigentlich mit Eurem Gewissen vereinbaren, dass Ihr so viele Bücher habt, die Ihr gewiss gar nicht wieder lest, und in meinen Lagern ist oft nicht ein einziges Buch."
Vor allem aber lag Pastor Forell die Einrichtung von Gottesdiensten und Seelsorge in den Lagern am Herzen. Er war vor dem Krieg Pfarrer an der Schwedischen Gesandt­schaft in Berlin gewesen, hatte in enger Fühlung mit der Bekennenden Kirche ge­standen und wusste um die Probleme der Christenheit im Dritten Reich aus eigener Anschauung. Er kannte auch H.W. Kramm gut. Es gelang ihm bald, das War Office zu überzeugen, dass es für ihn als einzelnen unmöglich sei, in allen Lagern Gottes­dienste zu halten, die Pfarrer herauszufinden, die als Lagerpfarrer geeignet waren und sie auf die verschiedenen Lager zu verteilen. Die Pfarrer in Deutschland und Österreich mussten ja - anders als im 1. Weltkrieg - mit der Waffe dienen und waren so als P.O.W.s zunächst unkenntlich von den anderen. In einem Lager mochten ver­schiedene sein, in einem anderen keine. Da Pastor Forell sich für H.W. Kramm ver­bürgen konnte, gab das War Office die nötige Erlaubnis, und bald waren sie beide in jeder freien Stunde in den Lagern. Es ging in der Gemeinde nicht ohne Seufzen darüber ab, dass der Pastor so oft weg war, aber man sah doch die Notwendigkeit ein.
Am 11. August 1946 durften zum erstenmal P.O.W.s an Gottesdiensten in der Nähe ihres Lagers teilnehmen. In St. Mary's erschienen an diesem Sonntag etwa 350 Kriegsge­fangene aus dem Lager bei dem Vorort Hinksey. Fast die ganze Belegschaft, Evangelische und Katholiken, Kirchliche und Unkirchliche, fanden sich zu der Predigt von Prälat Maas aus Heidelberg zusammen. Er war einer der ersten kirchlichen Gäste aus Deutschland, dem die englische Kirche eine Besuchserlaubnis nach England wegen seines Einsatzes für die nichtarischen Christen in den vergangenen Jahren hatte verschaffen können. Er war besonders geeignet, der Gemeinde und den P.O.W.s in seiner Predigt über den sinkenden Petrus, Matth 14, das rechte Wort zu sagen.
Die Verordnung des War Office war: "Nur Teilnahme am Gottesdienst. Keine Gespräche mit Zivilisten." Eine undurchführbare Bestimmung. Jedes Gemeindeglied war nach dem Gottesdienst sofort von vier bis fünf P.O.W.s umgeben, die fragten: "Wo kommen Sie denn her? Ist hier jemand aus Hannover, Stuttgart, Berlin usw.? " Die Non-Commissioned Officers sahen philosophisch zu und erklärten nach zwanzig Minuten, es sei nun Zeit, zum Abendbrot zu gehen. Bis zum nächsten Gottesdienst war die unmögliche Bestimmung zum Glück schon gefallen, und seither tranken die P.O.W.s friedlich mit der Gemeinde Tee oder Kaffee in der Old Library.
Wenn man die Erfahrung bedenkt, die viele der nichtarischen Christen in Deutschland hatten machen müssen, ist es erstaunlich, dass es ohne grosse Schwierigkeiten gelang, die Kriegsgefangenen zu integrieren, die ja von einem ganz anderen Hintergrund her kamen. Else Joseph sagte später, dass es für sie wichtig gewesen sei, gerade diesen Menschen zu zeigen, 'dass wir gar nicht so sind, wie sie es sich vorgestellt haben, dass wir gar nicht so sind, wie es ihnen geschildert wurde.'
Dass es bei den gemeinsamen Unternehmungen gelegentlich auch zu kleineren Missgeschicken kam, störte offensichtlich wenig. Bei einer Gelegenheit beispielsweise organisierten einige Frauen aus der Gemeinde ein Picknick für die Kriegsgefangenen, um ihnen mit einem schönen Ausflug ins Grüne etwas Abwechslung von ihrem Gefangenenleben zu verschaffen. Man traf sich in Oxford am Gloucester Green und fuhr dann mit dem Bus zu dem für das Picknick ausersehenen Ort, dem Boars Hill. Dort wurde im Freien gegessen. Als es auf fünf Uhr zuging, sagten die Frauen: "Nun müssen Sie ins Lager zurück. Da wollen wir uns mal schnell auf den Heimweg nach Oxford machen." Da lachten die Kriegsgefangenen etwas beschämt und erwiderten: "Also, wir wollten es ihnen nicht sagen, aber unser Lager ist da unten, am Fusse des Hügels."
Unter den Kriegsgefangenen, die damals nach England kamen, war auch Kurt Schult, der heute noch in der Gemeinde aktiv ist. An seine ersten Kontakte erinnert er sich gerne zurück:
Wir landeten in Tilbury, das war unser erster englischer Hafen. Dann wurden wir zum zwölf Meilen von Oxford entfernten Flughafen Benson gebracht. Wir waren 52 Gefangene, und wir haben die zwei Jahre auf dem Flugplatz gut ver­bracht. Wir durften uns zunächst aber nur im Umkreis von einer Meile bewegen. Ende 1946 hörten wir dann von den deutschen Gottesdiensten in St. Mary's in Oxford. Wir wurden sehr gut aufgenommen. Die Kirche war wie ein Stück deutsche Heimat für uns.
Der Brand in der Universitätskirche
Ein Ereignis, an das sich alle der frühen Gemeindeglieder erinnern, ist der Brand in der Universitätskirche St. Mary's, der durch die deutschen Lutheraner entdeckt wurde. Am 17. November 1946 fand dort ein Gottesdienst statt, und - wie gewohnt - traf man sich anschliessend zum Tee in der Old Library. Plötzlich gingen die Lichter aus. Marianne von Kahler, die das Feuer entdeckte, beschreibt die Geschehnisse:
Meine Freundin, Hilde Münz, wollte eine Kerze vom Altar holen. Ich wusste, dass noch einige Kerzen in der Sakristei sind, und ging hinunter. Als ich durch die Kirche kam, sah ich, dass das Schaltbrett direkt unter der Orgel-Empore brannte. Die elektrischen Leitungen der ganzen Kirche sollten in vier Wochen neu gelegt werden. Es war nun schon zu spät. Hilde unterrichtete Frau Liepmann. Wir wollten vorsichtig sein und keine Panik auslösen - die Old Library war sehr voll, fünfzig Kriegsgefangene hatten am Gottesdienst teilgenommen- Doch Frau Liepmann rief: "Out!", und die fünfzig deutschen Helden waren in einer halben Minute draussen. Als wir herunterkamen, standen die Kriegsgefangenen in zwei Reihen aufgereiht. Frau Liepmann fragte: "Was ist denn hier los?" und er­hielt zur Antwort: "Madam, wir erwarten ihren nächsten Befehl!" Darauf bemerkte Frau Liepmann: "Die sind aber gut gezogen."
Die Gemeindeglieder unterrichteten dann Mr. Milford und die Feuerwehr und halfen dabei, die wertvollen Sachen aus der Sakristei herauszutragen. Der Dachstuhl des Chores brannte aus, die Kirche wurde gerettet, wie Mr. Milford später sagte: "Thanks to the presence of the Lutherans on the premises." Das letzte Lied, das die verbrannte Orgel begleitet hatte, war: "Drum weiss ich, was ich glaube, ich weiss, was fest besteht und nicht im Erdenstaube wie Staub und Rauch vergeht."

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